Er lag tot – in der Hand das Marienbild

 
Es war irgendwo in Ostdeutschland in den letzten Monaten des Krieges. Wir hatten uns auf einem flachen Hügel, der vor der schwachen Hauptkampflinie in offenem Wiesengelände lag, eingegraben und bildeten einen vorgeschobenen Stützpunkt. Vor uns konnte man deutlich am Waldrand die russischen Stellungen erkennen.
Am zweiten Tag wurden wir durch einen russischen Angriff von unseren Linien abgeschnitten. Am dritten Tag ging ein Volltreffer in unsere Stellung und verwundete zwei Kameraden. In der folgenden Nacht entstand bei uns eine immer verzweifeltere Stimmung; wir hatten weder Wasser noch Verpflegung.
Ich entschloss mich, um ein Uhr nachts zu dem Tümpel hinauszukriechen, der im Niemandsland zwischen uns und den russischen Stellungen lag, um Wasser zu holen. Ich legte den Karabiner zur Seite und schnallte vier Feldflaschen am Koppel fest. Langsam und vorsichtig tastete ich mich vorwärts. Immer wieder hielt ich an und horchte gespannt in die Dunkelheit. Deutlich sah ich die drei Weiden am Rande des Tümpels als schwarze Schatten vor mir. Wenige Meter vor dem Tümpel spähte und horchte ich noch einmal in die Dunkelheit – dann kroch ich in die Mulde zum Wasser hinab. Vorsichtig füllte ich die erste und die zweite Feldflasche. Als ich auch die dritte angefüllt hatte, nahm ich einen Schluck – wie gut ist doch das Wasser!
Da glaubte ich ein Geräusch zu hören. Jäh fuhr ich auf. „Halt! Nix schießen, Kamerad, bitte!“ sagte eine Stimme halblaut zu mir. Der Lauf einer russischen Maschinenpistole saß vor meiner Brust. Ich war wie gelähmt. Vor mir hockte ein großmächtiger Russe. Wir sahen einander an. Aus! Gefangen, schoss es mir durch den Kopf. Der Russe schien unschlüssig zu sein. Jetzt lehnte er seine MP zur Seite und tastete nach meinen Taschen. Aus der linken Brusttasche zog er mein Soldbuch und meine übrigen Papiere. Im Strahl einer Taschenlampe, die er gedeckt hielt, durchsuchte er meine Papiere. Er fand zwei Heiligenbildchen, die ich stets bei mir trug. Wie gebannt starrte er darauf. „Du nix Faschist, du Christ?“ flüsterte er erstaunt. Ich nickte. Da gab er mir meine Papiere wieder zurück, bückte sich um meine vierte, noch leere Feldflasche, füllte sie und gab sie mir. Ich konnte nicht fassen, was hier mit mir geschah. Dann setzte sich der Russe neben mich und sagte im Flüsterton: „Oh, ich sprechen sehr viel gut deutsch! Warum du hier am Wasser?“ „Wir kein Wasser und viel Durst“, erwiderte ich. Er schien mir wohl den Hunger aus den Augen zu lesen, denn unvermittelt begann er wieder: „Du nix essen?“ „Wenig Brot“, sagte ich ausweichend.
Da kramte er aus seiner Tasche ein schönes Stück Brot, teilte es und forderte mich auf, zu essen. Wie es schmeckte! „Du haben Schnaps?“ wandte er sich wieder an mich. „Ja, bei meinen Kameraden“, antwortete ich. „Wann du auf Posten?“ „Ich immer Posten!“ – Wir einigten uns schnell: In der kommenden Nacht wollten wir uns um 23 Uhr wieder hier treffen; ich sollte Schnaps bringen, er Brot. Darauf gab er mir die Hand und kroch davon. Auch ich machte mich auf.
Groß war die Freude meiner Kameraden, als ich mit dem Wasser kam. Ich beschloss aber, ihnen von meinem Erlebnis vorläufig nichts zu sagen. Als es wieder Nacht wurde, wurde mir doch etwas angst. Vielleicht würde mich der Russe in einen Hinterhalt locken? Ich wagte die Sache aber trotzdem. Meine Kameraden und ich hielten vor Schwäche und Mutlosigkeit kaum mehr durch. Ich kroch hinaus. Wie in der vergangenen Nacht kam ich zum Tümpel. Der Russe wartete schon. Zuerst füllten wir die Feldflaschen mit Wasser. Dann fragte er mich: „Du Schnaps?“ Ich nickte stumm und reichte ihm die Flasche. Er zog den Korken und hielt sie mir wieder her. Er war noch misstrauisch, und so tat ich einen Schluck. Dann kostete er. „Gut!“ meinte er anerkennend. Er gab mir ein großes Bündel mit Brot. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. „Du noch Zeit?“ fragte er. Ich nickte. Und plötzlich fragte er: „Du wirklich ehrlich Christ?“ Ich lachte. Da begann er, mir aus seinem Leben zu erzählen: Nach der Revolution 1917 wurden seine Eltern, Adelige aus der Gegend von Petersburg, nach Sibirien verschleppt. Als man sie wieder freiließ, durften sie in der Nähe von Wladiwostok wohnen, wo er, Alex, 1921 zur Welt kam. Wie alle Kinder, sollte auch er in eine kommunistische Schule. Dagegen wehrte sich sein Vater, und es gelang ihm, Alex nach China in eine Missionsschule zu bringen, an der auch österreichische Patres wirkten. Alex wurde Christ, er lernte dort auch Deutsch. Später gelang es ihm, heimlich zu den Eltern zu gelangen und bei ihnen verborgen zu leben. Eines Nachts aber wurden seine Eltern verhaftet, ihn brachte man in eine kommunistische Erziehungsanstalt. Von seinen Eltern hatte er seither nie mehr etwas erfahren. Er arbeitete in einer Fabrik. 1943 wurde er Soldat.
Trotz der jahrelangen gottlosen Erziehung blieb er seinem Glauben treu; seine größte Sehnsucht war, einmal wieder mit einem Christen zusammenzukommen. Nun hatte er mich getroffen. Es schien uns wie ein Wunder. Schließlich bat er mich, zu erzählen, was sich in den letzten Jahren in der Kirche ereignet habe.
Ich erzählte ihm neben vielem anderen von der Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens, die Papst Pius XII. einige Zeit zuvor vollzogen hatte. Da das Weihegebet auf einem meiner Marienbildchen stand, beteten wir es gemeinsam. Nie werde ich vergessen, wie wir beide, zwischen den Fronten, als Soldaten feindlicher Armeen, im Lärm des Krieges, von einem abgegriffenen Zettel das Gebet lasen: „…Königin des Friedens…gib der streitenden Welt den Frieden der Waffen…und den Frieden der Seelen. …Auch für die durch Irrtum und Zwietracht getrennten Völker bitten wir dich … gib ihnen den Frieden…“ Er bat mich um das Marienbild mit dem Gebet, und ich gab es ihm. Dann nahmen wir Abschied mit dem Versprechen, uns in der kommenden Nacht wieder zu treffen. Meine Kameraden fassten kaum, als ich mit dem Brot zurückkam. Aber auch jetzt schwieg ich. Gegen Morgen setzte schweres Artilleriefeuer ein. Dann stürmten die Russen vom Waldrand gegen unseren Stützpunkt vor. In unserem Abwehrfeuer brach ihr Angriff zusammen.
Gegen Mitternacht kroch ich durch das mit Trichtern übersäte Gelände zum Tümpel. Immer häufiger sah ich gefallene Russen. Als ich beim Tümpel ankam, war Alex noch nicht da. Alex kam nicht. Ich wurde unruhig. Langsam kroch ich zurück. –
Da lag wenige Meter vor der Mulde ein Gefallener. Ein seltsames Gefühl trieb mich an, näher zu kriechen. Da erkannte ich Alex! Mit ausgebreiteten Armen lag er auf dem Rücken. Seine offenen Augen blickten zu den Sternen. In der einen Hand hielt er das Marienbild.
Lange lag ich neben meinem toten Freund. Dann kroch ich zurück. – Gott hatte ihm einen großen Wunsch erfüllt und ihn dann heimgeholt…
(Ein ehemaliger Soldat in „Altöttinger Liebfrauenbote“, 9. 12. 1962)