05. Dezember – Der junge Mann und der Eremit

Ein junger Mann klagte einem Eremiten sein Leid: „Ich lese viele heilige
Texte, ich vertiefe mich in die Schönheit der Worte und möchte sie in mir
bewahren. Aber es gelingt mir nicht, ich vergesse alles. Ist nicht die mühevolle Arbeit des Lesens ganz umsonst?”
Der Eremit hörte ihm gut zu. Danach ließ er ihn einen schmutzverkrusteten Korb aufnehmen, der neben der Hütte stand: „Hol mir aus dem Brunnen dort Wasser”, sagte er. Widerwillig tat der Mann, wie ihm geheißen.
Das Wasser war längst herausgerieselt, als er zurück kehrte. „Geh noch
einmal”, sagte der Eremit. Der junge Mann folgte. Ein drittes und viertes
Mal musste er gehen. Der Alte prüft meinen Gehorsam, ehe er meine
Frage beantwortet, dachte er. Immer wieder füllte er Wasser in den Korb,
immer wieder rann es zu Boden. Nach dem zehnten Mal durfte er endlich aufhören.
„Sieh den Korb an”, sagte der Eremit. „Er ist ganz sauber”, sagte der
junge Mann. „So geht es dir mit den Worten, die du liest und bedenkst”,
sagte der Eremit. „Du kannst sie nicht festhalten, sie gehen durch dich
hindurch, und du hältst die Mühe für vergeblich. Aber, ohne dass du es
bemerkst, klären sie deine Gedanken und machen das Herz rein.”

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